Kann man Scham heilen?

Auf diese Frage gibt es prinzipiell zwei Antworten. Wenn wir Scham als menschliches Gefühl betrachten – so wie Wut, Ärger, Trauer, Leid – dann gibt es an Scham nichts zu heilen. Dann gehört dieses Gefühl einfach zu uns. Heilen können wir da, wo toxische, chronische oder traumatische Scham entstanden ist.

Es ist also nicht möglich, Scham komplett loszuwerden. Scham ist unangenehm. Immer.

Im Unterschied zur toxischen Scham – die das Maß dessen, was wir aushalten und verarbeiten können, überschritten hat –, können wir gesunde Scham aushalten und von ihr lernen.

Scham löst eine uralte, existenzielle Angst vor dem Verstoßen und Verlassenwerden in uns aus, was unsere „natürliche Grenzschicht“ (Ja/Nein sagen, Heranziehen/Wegschieben) über die Zeit beschädigt und löchrig werden lässt.

Es ist also wichtig anzuerkennen, dass Verletzungen überhaupt stattgefunden haben. Das ist nicht immer einfach, da unsere Kultur zahlreiche Verhaltensweisen als „normal“ empfindet und kleinredet, obwohl sie tiefe seelische Spuren hinterlassen. Zeigen können sich diese Verletzungen in nahezu jeder Lebenslage – immer da, wo wir in Kontakt mit anderen sind. (Und im Laufe der Zeit können sich diese Situationen dann sogar ausschließlich in unserer Vorstellung abspielen. Das nennt man „internalisiert“.)

Fünf Dinge, die du tun kannst

1. Mach dir klar, dass du nicht alleine bist!

Das mag erstmal banal klingen, ist aber zentral. Einsamkeit ist eine zentrale Folge von Scham, und zu wissen, dass du nicht allein mit deinen Schwierigkeiten bist, nimmt dieser Einsamkeit den ersten Stachel.

Experimente haben ebenfalls gezeigt, dass ein einziger Unterstützer einem Außenseiter in einer Gruppe überproportional hilft. Warum? Weil die größte Angst des Alleinseins stark vermindert wird.

2. Experimentiere mit neuen Sichtweisen

Wie wir gesehen werden, spielt bei Scham eine wichtige Rolle. Und wir nehmen immer von einem bestimmten Standpunkt aus wahr. D.h. wenn wir die Perspektive bewusst verändern, ändert sich auch die Sicht auf die Dinge.

Vielleicht hast du einmal den Film „Club der toten Dichter“ gesehen, wo der Lehrer die Schüler auffordert, auf die Stühle zu steigen. Ihm ging es genau darum: die Pespektive zu erweitern.

Du kannst sogar mal bewusst in die andere Richtung sehen. Wie sieht die Welt aus, wenn du sie um 180 Grad drehst? Oder dich auf den Kopf stellst? Das gleiche kannst du mit deinen Überzeugungen tun. Was, wenn „Ich bin … (negative Zuschreibung)“ durch „Ich bin … (genaues Gegenteil)“ ersetzt wird?

Es wird sich fremd anfühlen, das ist klar. Aber ist diese entgegengesetzte Position deswegen „falsch“ oder „Unsinn“? Darüber kann man sicher eine Weile nachdenken. Ich glaube, in jeder Perspektive steckt immer ein Körnchen Wahrheit und vieles, was rein subjektiv ist.

3. Informiere dich

Je mehr du über die Dynamik von Scham erfährst und verstehst, desto einfacher wird es, zu dir selbst die nötige Distanz zu finden. Distanz kann helfen, von außen Dinge zu analysieren und ein größeres Bild zu erhalten. Wer ist noch beteiligt an meiner Dynamik? Was passiert eigentlich, wenn eine Situation aus dem Ruder läuft? Und wie kann ich bewusst gegensteuern?

Was kann ich tun? Das kann dir helfen, aus einem Gefühl von Hilflosigkeit herauszukommen.

4. Strecke die Fühler nach Gleichgesinnten aus

Das kann sich schwierig oder unmöglich anfühlen, vor allem, wenn du von sozialen Ängsten betroffen bist. Dennoch ist es unumgänglich, neue Kontakte zu knüpfen, wenn du von Scham genesen willst. Der Trick besteht darin, sorgsam und langsam zu sein und die Menschen genau zu prüfen. Unterstützen sie mich, oder machen sie mich runter?

Wenn wir an vergiftete Beziehungsstrukturen gewöhnt sind, kann es passieren, dass wir trotz anfänglich guten Gefühls doch wieder in eine alte Falle tappen. Das ist ok! In dem Fall heißt es weiterzusuchen. Und es gibt Profis, die geschützte Räume anbieten und darauf achten, dass die Dinge vernünftig laufen.

5. Bemühe dich, mit dir selbst freundlicher zu sein

Oft machen wir uns selbst runter und setzen damit die Beschämung fort, die wir früher von anderen erlebt haben. Achte in nächster Zeit einfach mal darauf, wie du mit dir selbst sprichst. Ermutigst du dich, oder kritisierst du dich?

Versuche, dir selbst gegenüber freundlicher zu sein. Veränderung beginnt in der Regel innen.