Ein Hauptgrund, warum uns Scham meist völlig unbewusst ist, ist die mangelnde Kommunikation über sie. Darin zeigt Scham ein typisches Merkmal eines Tabus. Doch Sprache und Bewusstsein sind eng verknüpft. Ohne Sprache bildet sich oft kein Bewusstsein. Sie dient uns gewissermaßen als Zwischeninstanz, als Spiegel. Daher manipulierten die Mächtigen in George Orwells Klassiker 1984 auch die Sprache. Präge die Sprache, und du leitest Bewusstsein. Daher trieb mir ein Gespräch mit meinem Sohn gestern Tränen in die Augen.
Ich saß abends alleine im Wohnzimmer und las, die Kinder lagen bereits im Bett. Da kam mein Jüngster ganz schüchtern ins Zimmer und bedeutete mir, dass er etwas mit mir besprechen wollte.
Er sagte mir, dass er sich „dafür schäme“ (O-Ton), wenn er abends nochmal aufstehe und zu uns ins Zimmer komme. Denn er wisse, dass er das „nicht tun soll“.
Ich war sofort wieder hellwach. Und ich war gleichzeitig bestürzt und überglücklich.
Negative Schlüsse
Bestürzt, weil ich verstand, dass mein Sohn negative Schlüsse über sich selbst gezogen hatte, die Scham in ihm auslösten. Und überglücklich, weil er damit zu mir kam und es auch noch in Worte fasste.
Nun muss ich sagen, dass das Wort Scham in unserem Haushalt relativ häufig zu hören ist, da ich mich so intensiv mit dem Thema beschäftige. Bevor ich mich diesem Thema zuwandte, begegnete mir dieses Wort jedoch extrem selten. Von daher fand ich es nicht verwunderlich, dass mein Sohn in der Lage war, sein Gefühl zu identifizieren und es zu benennen – so wie er mir ja auch sagen kann, dass er wütend, traurig oder verletzt ist.
Was ich bemerkenswert fand, war, dass er sich nicht isolierte und zurückzog, sondern dass er mit seinem schlechten Gefühl in Kontakt mit mir ging. Er suchte instinktiv Heilung von der isolierenden Wirkung von Scham. Ich hätte heulen können vor Freude.
Gefühl mit oder ohne Worte?
Diese Reaktion sagt natürlich auch einiges über meine eigenen Erfahrungen aus. Ich war über vierzig Jahre lang nicht in der Lage, meine elende Befindlichkeit zu kommunizieren. Ich hatte schlicht keine Ahnung, was mit mir los war. Und noch viel weniger hatte ich ein Gegenüber, das mir meine Gefühle bestätigt und mir meine Angst genommen hätte. Ich hatte kein Gegenüber, das überhaupt gewusst hätte, dass wir es mit Scham zu tun haben – und was wir am besten damit tun können.
Ich erlebte einen sehr bewussten Moment des Widerstreits in mir. Da war zum einen die Seite in mir, die froh war, den Abend endlich für mich zu haben und die das Kontaktangebot meines Sohnes ausschlagen wollte. Trennung. Isolierung. Zurückweisung. Scham. Und dann war da die andere Seite in mir, die jubilierte und wusste: das ist eine Chance!
Die Wahl fiel mir nicht schwer, und gemeinsam kuschelten wir uns aufs Sofa. (Wie ich schon sagte: Verbindung hilft. Vor allem Körperkontakt.) Und ich erklärte ihm, dass ich sehr stolz auf ihn sei (was stimmte; es war nicht lediglich eine Strategie). Ich könne seine Gefühle verstehen, aber meiner Meinung nach würde er gerade etwas sehr Kluges tun: er hätte ein Bedürfnis entdeckt und bemühe sich nun darum, es zu erfüllen. Darauf könne er stolz sein. Dies sei etwas sehr Gesundes, und ich sei froh, dass er zu mir gekommen sei.
Grenzen und Unterschiede werden deutlich
Dann erklärte ich ihm meine Beweggründe. Warum ich nicht immer möchte, dass er nochmal aufsteht und in unser Zimmer kommt. Dass ich gerne mit ihm Zeit verbringe, aber dass es auch Momente gibt, in denen ich für mich sein möchte.
Wir waren uns in dem Moment sehr nah. Ich konnte beobachten, wie er entspannte, wie der ängstliche Ausdruck aus seinem Gesicht verschwand und sich ein Strahlen breit machte. Unsere Bedürfnisse standen manchmal miteinander in Konflikt. Aber das machte unsere Bedürfnisse nicht „schlecht“. Vielmehr war es unsere Aufgabe, eine Lösung zu finden. Eine Balance. Und die kann man nur finden, wenn man im Gespräch ist und voneinander weiß.
Ich habe in diesem Moment gespürt, wie wichtig es ist, meinen Kindern das Bewusstsein und die Worte für ihre Scham zu vermitteln. Denn in diesen Worten liegt der Schlüssel, um Scham in Nähe und Heilung zu verwandeln.