Oder: Warum ich gerade die Perspektive wechsele

Manche Themen finden und begleiten uns ein Leben lang. Sie scheinen regelrecht an uns zu kleben. So geht es mir mit dem Thema Scham. Doch was tun, um sich davon zu befreien?

Eine Grunderfahrung meines Lebens ist, dass ich Fragen hatte und niemand sie mir beantworten konnte. So erging es mir auch mit meiner Scham.

Glücklicherweise bin ich mit einem nicht enden wollenden Wissensdurst gesegnet und nicht nur von einem tiefen Wunsch beseelt zu heilen, sondern auch zu verstehen. Offene Fragen lassen mir keine Ruhe.

Es sind diese Fragen, die mich auf meine Reise katapultiert haben. Unterwegs fand ich viele Teilantworten. Doch der Moment, wo alles mit einem „Klick“ an seinen Platz fällt, blieb bisher aus.

Top Down

Im Kopf habe ich schon lange ein theoretisches Gerüst, um meine ganz eigene Heilmethode zu formulieren. Ich begann mit dem, was ich am besten kann: denken und zergliedern. Auch in vielen gängigen Therapieformen, vor allem in der Verhaltenstherapie, werden das Verstehen und die Kognition ganz hoch gehängt.

Daran ist erstmal nichts zu bemängeln, außer dass es mein Problem nicht löste. Verstehen ist toll – aber wie hilft mir das (außer mir einen Bezugsrahmen zu geben)?

In der Therapiewelt gibt es – vereinfacht gesagt – zwei Wege, sich durch Schwierigkeiten zu arbeiten. Top Down und Bottom Up. Während wir bei Top Down im Kopf (also im Denken und Erzählen) beginnen und uns idealerweise abwärts arbeiten, fängt die Bottom Up-Methode unten an: beim Körper. In unserem Fundament.

Körpertherapie

Meine Geschichte mit Körpertherapie geht viele Jahre zurück. Zu der Zeit, als ich beruflich in einer Phase der Suche und Neuorientierung war, stieß ich auf zwei Therapiemethoden, die mich faszinierten: Gestalt und Körpertherapie. Bei beiden wusste ich instinktiv, dass sie mir helfen würden, doch ich entschied mich damals für die Gestalt und absolvierte die Ausbildung.

Die Körpertherapie verschob ich „auf später“, wohl in dem diffusen Wissen, dass ich dazu noch nicht bereit war.

Nun – wie es scheint, bin ich jetzt bereit. Und was soll ich sagen? Es stellt ziemlich viel auf den Kopf.

Bottom Up

Es ist eine eindrückliche Erfahrung, wenn du plötzlich dank der liebevoll Präsenz eines kompetenten Zeugens körperlich erfährst, wie viel Trauma in deinem Körper sitzt und du beginnst zu lernen, dich – vielleicht zum ersten Mal im Leben – selbst zu regulieren. Denn dass Scham und Trauma untrennbar verbunden sind, war mir (theoretisch) nicht erst seit gestern klar.

Doch ich beginne zu begreifen, warum ich so lange gebraucht und all die Jahre gezögert habe, therapeutisch tätig zu werden. Mir fehlte der Boden, die Verkörperung meines Wissens – und fehlt mir noch, jedenfalls teilweise. Doch genau das brauche ich, wenn ich die Prozesse, die ich theoretisch schon lange begreife, auch real begleiten will.

Der direkte Weg

Eins kann ich versichern: wer den direkten Weg der Scham- und Traumaheilung sucht, sollte erwägen, direkt unten zu beginnen. (Mein heißer Tipp ist Somatic Experiencing).

Der Haken ist, dass traumatherapeutische Methoden eher selten von Versicherungen getragen werden, und auch die allgemeine Anerkennung lässt noch eher zu wünschen übrig. Auch mir stehen gerade die Haare zu Berge, wenn ich begreife, wie viel Geld ich erneut in die Hand nehmen muss, um diesen letzten, aber so entscheidenden Schritt zu gehen.

(Und das Trauma, das mich die letzten Jahre auf Trab gehalten hat, sitzt nicht nur in mir, sondern in allen Mitgliedern meiner Familie – was die Kosten mal eben vervierfacht. Vom kollektiven Ausmaß mal ganz zu schweigen!)

Manchmal braucht es Umwege

Ein anderer Aspekt ist, dass wir nicht immer genug Stabilität und Ressourcen mitbringen, um den kürzesten Weg zu gehen. Ich habe meine Umwege gebraucht – musste erst die Erfahrung machen, dass ich mich in einer Gruppe sicher und willkommen fühlen kann und durfte lernen, mich allmählich wieder selbst wahrzunehmen.

Dennoch schien mein Körper die ganze Zeit in den Startlöchern zu stehen. Schon vor mehreren Jahren bemerkte ein Osteopath verblüfft: „Na, Ihr Körper will aber unbedingt gesund werden! Ich setze nur minimale Impulse, und er springt sofort an.“

Als ich offenbar stabil genug geworden war, brach sich das Zittern in mir Bahn und hat mich seitdem nicht mehr verlassen. Mein Körper hatte wieder die Regie übernommen.

Das ist inzwischen mehr als fünf Jahre her. Vieles habe ich alleine lösen dürfen, und darauf bin ich mächtig stolz. Immer wieder aber – und das sind die Momente, wo das Trauma in uns berührt wird – gelangte ich an meine Grenzen dessen, was ich alleine halten konnte. Und auch hier zeigte sich ein Teil meiner Traumastruktur, weil ich meinte, alles alleine machen zu müssen.

Entspannung

Letzten Freitag habe ich meine Traumatherapeutin das erste Mal persönlich erlebt – für eine Vier-Stunden-Session. Noch nie habe ich so tiefe und schwierige, aber nährende Prozesse erlebt. Und es machte etwas mit mir, als sie irgendwann zu mir sagte: „Du hast wahrhaft Schreckliches erlebt! Und ich habe Respekt davor, dass du den Mut hattest, weiterzumachen und noch hier bist.“

Das Zauberwort scheint nun – Verlangsamung. Denn nur so haben wir eine Chance, so tiefgreifende Erfahrungen zu verarbeiten, ohne erneut überflutet zu werden.

Nicht so angenehm ist, dass direkt noch mehr Traumen an die Oberfläche gespült wurden (als hätten auch sie nur darauf gewartet!), und es erfordert nun viel Sorgfalt, um die Dinge der Reihe nach zu integrieren. Heute morgen konnte ich glücklicherweise erneut meinen Mann bemühen, um mich zu halten – während ich einen weiteren tiefen Prozess durchlief.

Wir brauchen einander

Ja. Ich stehe für Selbstheilung. Denn zu Selbstheilung sah ich mich lange Jahre genötigt, weil nichts anderes zu finden war. Und auch, weil ich an Eigenverantwortung glaube.

Doch ich habe – erneut – eine Grenze erreicht. Jenseits dieser Grenze brauche ich andere, um voll und ganz heil zu werden. Das zuzugeben, fällt mir bis heute schwer. Doch es ist mir gelungen, um Unterstützung zu bitten. Und sie wurde mir gewährt.

Perspektivwechsel

Warum wechselt das meine Perspektive? Nun – jetzt, wo ich (fast) „unten“ angekommen bin, kann ich mich umsehen und den Weg bestaunen, den ich zurückgelegt habe. Schon oft habe ich mich gefragt, warum ich diesen merkwürdigen Weg wähle, um als Gestalttherapeutin meinen eigenen Prozess transparent zu machen.

Ich glaube, das ist aktuell, was ich aus vollem Herzen zu geben habe – und geben kann, ohne meine eigene Stabilität zu gefährden. Vor vielen Jahren fragte ich meine damalige Gestalt-Ausbilderin einmal, warum ich eigentlich durch all diese Schichten durchgehen müsse, wenn ich doch auf einer höheren Ebene (meinem „Höheren Selbst“) all dieses Wissen schon erfahren hatte.

Ihre Antwort war so schlicht wie zutreffend: „Damit du anderen irgendwann selbst hindurch helfen kannst.“

Und so fühle ich mich wie der Maulwurf, der sich – fast – bis ganz zum Boden durchgegraben hat. Wenn ich diese letzten Meter auch gegangen bin, kenne ich den ganzen Weg. Den Weg, den ich schon so lange ahne.

Wir leben vorwärts und verstehen rückwärts.