Heute ist nicht einer meiner besten Tage. Ich fühle mich geschlagen. Besiegt. Gescheitert. Dieses Gefühl ereilt mich nicht sehr häufig. Ich weiß nicht weiter. Doch in diesem Scheitern spüre ich etwas Überraschendes: Stolz.

Jemand, der wie ich lange von Leistungsdenken und Perfektionismus getrieben war, mag es überhaupt nicht zu scheitern. Es passt einfach nicht in mein Selbstbild. Aber nun ist es geschehen. Körperlich und emotional habe ich eine Grenze erreicht. Eine ausgesprochen spürbare Grenze. Wille allein reicht plötzlich nicht mehr, um so weiterzumachen wie bisher.

Fehlbarkeit

Ich könnte auch sagen: ich muss mir heute meine Fehlbarkeit eingestehen. Meine Begrenzung. Oder, wie John Bradshaw es nennen würde, meine Menschlichkeit. Bradshaw ist es auch, der in seinem Buch „Healing the shame that binds us“ beschreibt, dass toxische Scham zwei Extreme in uns erzeugt: das Über- oder das Untermenschliche. Wir wollen entweder besser sein als alle anderen (was uns in einen nie endenden Konkurrenzkampf zwingt), oder wir fühlen uns wie der letzte Dreck. Wertlos, ohne jede Fähigkeit und ohne jedes Recht, geliebt zu werden.

Ich gehöre eindeutig zum erstgenannten Lager. Wobei ich auch die andere Schattenseite kenne.

Stolz im Scheitern?

Doch wieso verspüre ich Stolz, wenn ich doch gerade gestanden habe, dass ich mich gescheitert fühle? Und woran genau bin ich gescheitert? Wenn ich es recht bedenke, bin ich an meinen Ansprüchen gescheitert. Ich muss mir, vielleicht zum ersten Mal in dieser Klarheit, eingestehen, dass ich leider nicht zaubern kann. Dass ich nicht übermenschlich bin. Und dass ich auch nicht grenzenlos und grenzenlos belastbar bin (nicht, dass das aus therapeutischer Sicht erstrebenswert wäre …). Was in Wirklichkeit eine gute Nachricht ist. Nur brauchen wir manchmal leider etwas länger, bis wir von der Leitung gehen, auf der wir so hartnäckig stehen.

Die Wahrheit, die mir heute entgegenspricht, ist schlicht und doch entlastend. Ich kann nicht. Es ist noch nicht mal, dass ich nicht wollen würde. Ich kann nicht. Meine Ressourcen sind erschöpft, meine Kräfte auch, meine Ideen, meine Kreativität. Ja, sogar mein Mut. Obwohl der sich bereits – während ich diese Zeilen schreibe – schon wieder zu regen beginnt.

Überzeugungen

Scham hat unglaublich viel mit unseren Überzeugungen zu tun. Glaubenssätze werden die auch genannt. Ich müsste … Ich sollte … Ich bin ja doch … Immer … Nie … und Nirgendwo.

Mit welchen Glaubenssätzen habe ich also zu tun? Ungeheilten, wohlgemerkt. Denn sonst würden sie mich nicht immer wieder zu Fall bringen. (Und warum zu Fall? Damit ich vielleicht endlich einmal innehalte und spüre …?) Ich muss immer für alle da sein. Ich muss immer alles schaffen. Immer. Alles. Schon klar, oder? Kein Raum für Scheitern, so rein sprachlich gesehen. Schwarz oder weiß.

Stellt sich nun aber heraus, dass das voll gelogen ist. Oder anders gesagt, ist das Scheitern bei diesem Denken schon vorprogrammiert. Kein einziger Politiker, Star oder Prominenter hat es je geschafft, hundert Prozent aller Menschen hinter sich zu bringen, zu überzeugen oder ihre Zustimmung zu erlangen. Manchmal haben sogar die aus meiner Sicht brilliantesten Menschen die wenigsten Anhänger gehabt. Tut das ihren Leistungen einen Abbruch? Liegt ihr Wert nicht in ihnen selbst, ihrem ureigenen Sein und Schaffen?

Ja, ich habe ganz schön viel falsch gemacht. Und mache es weiterhin. Wie ich heute noch sagte: ich bin zum ersten Mal in dieser Situation. Ich bin Lernende. Und die Erfahrung hat man, so wertvoll sie auch ist, in der Regel erst, nachdem man sie gebraucht hätte.

Erfahrung ist die Auswertung von Fehlern

Stolz verspüre ich heute trotzdem. Zum einen, dass ich meine Grenze einfach so zugeben kann. Ich kann mir erlauben, nicht zu können. Wie sensationell ist das denn?!

Zugegeben, dabei ist auch schiere Erschöpfung im Spiel. Ich habe grad einfach nicht mehr die Kraft, noch länger die Fahne hochzuhalten und „so zu tun, als ob“. Schwierig ist vor allem, wenn wir uns selbst belügen. „Doch, doch, es geht noch.“ „Ich schaff das.“ „Das wäre doch gelacht.“

Nein. Es geht nicht mehr. Und ich schaffe es gerade auch nicht.

Auf Erfolge blicken

Aber – und da kommt der Stolz ins Spiel – ich kann bei allen Fehlern auch auf Erfolge zurückblicken. Vielleicht sieht ein Ergebnis nicht nach einem Erfolg aus, weil es unseren verzerrten Ansprüchen nicht genügt. Aber sehen wir uns einmal an, wo wir gestartet und wie weit wir gekommen sind, dann wird auch aus einem Scheitern ein (Teil-)Erfolg. Ein Erfolg, auf den ich sehr, sehr stolz bin. Denn ich weiß, wie viel ich hinein gesteckt habe. Wie sehr ich gekämpft und gerungen und wieviel Aufmerksamkeit und Zeit ich dieser Sache gewidmet habe. Wie hätte sie ausgesehen, wenn ich all diese Dinge nicht getan hätte?

Doch am Entscheidendsten ist vielleicht, dass mein Stolz viel ehrlicher und menschlicher ist als jede Scham, die ich über mein (scheinbares) Scheitern empfinden könnte. Wofür sollte ich mich schämen? Dass ich etwas nicht kann? Dass ich sagen muss: sorry, geht nicht? Dass ich unwissend oder ratlos bin? Überfordert?

Von Thomas Edison wird die Anekdote erzählt, dass er jedes Material, das er erfolglos als Leuchtmittel für seine Glühbirne getestet hatte (und das waren rund 1000 Materialien), als Erfolg gewertet hat. Denn er wusste nun: so geht es nicht.

Für einen Perfektionisten ist es eine Leistung zu sagen: Ich kann nicht.

Stolz ziehe ich daraus, dass ich inzwischen zu diesen Dingen stehen kann. Das ist meine wahre Leistung. Es mag nach nicht viel aussehen, aber ich erkenne daran, dass ich trotz aller Rückschläge weit gekommen bin. Ich habe Teile meiner Scham geheilt. Ich kann besser zu meinen Fehlern stehen. Und ich kann sagen: hier ist die Grenze.

Wer selbst schambelastet ist, der weiß, welche Leistung darin liegt.