Schamtoleranz zu entwickeln ist eine verdammt knifflige Angelegenheit. Unter Schamtoleranz verstehe ich die Fähigkeit, eigene und fremde Schamgefühle wahrnehmen und aushalten zu können, ohne sie abzuwehren oder davon überflutet zu werden.
Erinnern wir uns: gesunde Scham ist mit einer grundsätzlichen Offenheit verbunden. Aus dieser Offenheit sind wir in der Lage, uns sozial zu engagieren und zu verbinden. Sind wir jedoch von einer erhöhten, toxischen Scham betroffen, so leidet unsere Offenheit in dem Maße, wie wir uns bedroht fühlen. Denn nicht zuletzt warnt Scham uns davor, dass wir mit unseren Bedürfnisse in einer Situation nicht auf positive Resonanz oder Erfüllung stoßen werden.
Zurück in die Offenheit. Zurück in die Offenheit?!
Für mich war der lange Weg meiner Schamheilung ein Weg zurück in die Offenheit. Oder in die Verletzlichkeit, wie Brené Brown es nennt. Darüber bin ich sehr froh. Aber damit einher geht auch eine Empfindsamkeit, die in einer überwiegend schamtoxischen Umgebung (und die ist fast überall zu finden; Schamfreiheit ist leider eher die Ausnahme) manchmal nicht besonders angenehm ist.
Denn auf dem Weg der Heilung lernen wir allmählich, unser Schutzschild wieder herabzulassen und Risiken – Verbindung – wieder zuzulassen. Nicht wahllos, das versteht sich von selbst, sondern in Situationen, die wir für sicher halten.
Irren ist menschlich
Doch was passiert, wenn wir uns irren? Wenn wir einem Gegenüber mehr zu- oder vertrauen, als er oder sie auszuhalten in der Lage ist? Dann kann es passieren, dass wir die Schamabwehr des Gegenübers abbekommen.
Das ist ein ausgewachsenes Scheißgefühl. Und undankbar fühlt es sich auch noch an.
Wieso also sollte ich mir so etwas antun wollen? Ist es nicht klüger, den schwarzen Peter (= die Last der Beschämung) direkt wieder zurückzugeben?
Ich denke, es kommt darauf an, wie wir den schwarzen Peter zurückgeben.
Wir haben die Wahl
Haben wir erstmal erkannt, dass jemand mit Scham reagiert, haben wir die Wahl.
- Wir könnten denjenigen (in konstruktiver Weise) konfrontieren. Steckt derjenige jedoch tief in der Leugnung bzw. hat noch nie was von Schamabwehr gehört, sind die Chancen für einen konstruktiven Ausgang der Situation nicht besonders hoch.
- Wir könnten dem anderen eine Retourkutsche verpassen. Zahn um Zahn. Doch was passiert dann? Die Schamspirale bleibt unbewusst und dreht sich weiter. Und die Chancen stehen hoch, dass die Situation weiter eskaliert.
- Wir geben den schwarzen Peter – genauer gesagt die Verantwortung – innerlich zurück, zumindest teilweise. Gleichzeitig erkennen wir ggf. an, dass wir selbst auch einen Anteil an der Situation hatten. Wir spüren unsere eigene Scham und die des anderen. Und können den Teil, der zum anderen gehört, von unseren Schultern nehmen und ihm gedanklich zurückgeben. Sprechen brauchen wir dabei kein Wort.
Tun wir letzteres, entschärfen wir die Situation. Doch einfach ist das nicht, und angenehm auch nicht. Schamtoleranz wird nie angenehm sein, so sehr wir auch „geheilt“ sein mögen. Manche könnten auch sagen, dass dies bedeutet, den „unteren Weg“ zu gehen. Doch ich betrachte es anders. Es kann sich so anfühlen, als würde man den anderen mit einer Gemeinheit davon kommen lassen. Als könne man eine Bemerkung nicht auf sich sitzen lassen. Doch in dem Moment, wo wir verstehen und spüren, dass der andere auch Scham empfindet (und wir aus eigener Anschauung wissen, wie schmerzhaft das ist), können wir vielleicht auf die Revanche verzichten und Mitgefühl empfinden.
Schambewusstsein bedeutet Verantwortung
Das erfordert Größe und Stärke. Ich finde es bis heute anstrengend, all die (meist unbewusste) Scham meiner Umgebung wahrzunehmen wie ein Seismograph. Eine Stimme in mir schreit noch immer nach Gerechtigkeit. „Übernehmt endlich euren Anteil. Ich will eure Scham nicht länger abkriegen.“
Aber aus toxischer Scham zu „erwachen“ ist ein langwieriger und extrem schmerzhafter Prozess. Ich kann es niemandem verdenken, der diesen Weg lieber nicht gehen will.
Ich weiß nur eines: ich hätte mir in vielen Situationen sehnlichst ein schamtolerantes, bewusstes Gegenüber gewünscht. Jemanden, der Bälle nicht zu mir spielt (oder zurückspielt). Jemand, der das bittere Spiel der Beschämung beendet.
Das ist der Grund, warum ich versuche, die Scham anderer auszuhalten. Sie nicht abzuwehren. Sie da sein zu lassen.
Das gelingt mir nicht immer. Manchmal ist der Druck auch für mich noch zu groß.
Aber ich werde immer besser. Und ich hoffe, auf diese Weise das Große Ganze ein bisschen weniger toxisch zu machen. Auch wenn es unangenehm ist. Verdammt unangenehm.
Versuche der Mensch zu sein, den du selbst dringend gebraucht hättest.