Das Schwierige an toxischer Scham ist, dass wir sie abwehren. Wir lassen Schamgefühle gar nicht erst ins Gewahrsein kommen, sondern delegieren sie sofort an andere. Wir werten andere ab, belächeln sie, greifen an, reagieren betont emotionslos, mit Überlegenheit oder Arroganz. All dies sind Strategien, um die eigene Beschämung nicht selbst zu spüren. Stattdessen fügen wir sie anderen zu. Anders gesagt: wir projizieren unsere Schamgefühle und die damit verbundenen Eigenschaften oder vermeintlichen Fehler auf andere. Toxische Scham braucht Sündenböcke.

Mit Schamabwehr einher geht ein extremes Maß an Leugnung. Vielleicht kann man es nicht einmal Leugnung nennen, würde dies doch implizieren, dass wir etwas bewusst abstreiten. Nein. Schamabwehr geschieht so blitzschnell und so unbewusst, dass wir mit großem Erstaunen oder sogar Empörung reagieren, wenn andere uns auf unser Verhalten hinweisen. Ich wage sogar zu behaupten, dass neun von zehn Menschen nicht merken, dass sie ihre Scham delegieren. Vielleicht ist der Prozentsatz sogar noch höher.

Schamabwehr und toxische Beziehungsmuster

Schambelastung ist mit einem äußerst markanten Beziehungsmuster verbunden. Zynismus, Besserwisserei, kontinuierliche Kritik und Abwertung auf der einen und ein schwaches und zunehmend ausgehöhltes Selbstwertgefühl auf der anderen Seite sind deren auffallendste Merkmale. Menschen, die in einer Beziehung mit einem Narzissten sind oder waren, wissen ein Lied davon zu singen. Aber es bedarf keines Narzissten, um in die Falle dieser toxischen Energie zu tappen.

Inzwischen bin ich so sensibilisiert, dass ich diese Mechanismen auch in anderen Beziehungen sofort erkenne. Vor kurzem sah ich eine Dokumentation, in der drei Paare einem „Paartest“ unterzogen wurden. Schon nach den ersten Wortwechseln war offensichtlich, dass bei mindestens zwei der Paare Scham am Werke war.

Schuldzuschreibungen und Machtgefälle

Auch Schuldzuschreibungen sind ein typisches Merkmal dieser Dynamik. Ebenso wie Verallgemeinerungen und Du-Botschaften. „Immer hast du …“ „Nie bist du …“ „Ich wusste doch gleich, dass …“ Und so geht das in einem fort.

Letztlich haben wir es hier mit Machtkämpfen zu tun. Und diese Macht ist so wichtig, weil der Mächtigere die Möglichkeit hat, die Scham dem Schwächeren zuzuschieben. Stell dir eine heiße Kartoffel vor, die niemand haben will. Wo wird sie am Ende landen? Am schwächsten Glied der Kette.

Beziehungsfresser

Paartherapeuten haben längst erkannt, dass solche Komunikationsmuster auf Dauer jede Beziehung zerfressen. Denn wenn die eigentliche Ursache – Scham – dahinter nicht erkannt wird, fügen sich die Partner  immer weiter und vor allem immer tiefere Wunden zu. Im schlimmsten Fall mündet dies in häusliche Gewalt und in extremen Fällen sogar in Kapitalverbrechen. Im „besten“ Fall in Trennung.

Im Kern beginnt die Gewalt aber bereits sehr viel früher. Und da wir die Muster so häufig sehen, empfinden wir sie sogar als „normal.“ Diese erste Form von Gewalt geschieht verbal. Das Buch „Worte, die wie Schläge sind“ war diesbezüglich für mich ein echter Augenöffner. Doch dass Scham die Ursache für diese Gewalt ist, begriff ich erst wesentlich später.

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Typisch für diese Art Beziehungskampf ist die permanente Vergeltung – offen oder verdeckt. Man hat fast den Eindruck, die Partner befänden sich im Krieg. Und manchmal spiegelt sich dies sogar in ihrer Sprache wider.

Über die Zeit entstehen immer tiefere Ressentiments, Rachebedürfnisse und sogar Hass. Der Grund sind all die giftigen Pfeile, mit denen die Partner sich über lange Zeit beschossen haben. Vielleicht greifen sie sogar zu drastischeren Mitteln. Gehen fremd, streuen Lügen oder tun andere Dinge, um es dem Partner heimzuzahlen.

Daraus auszusteigen, ist nicht einfach.

Einsicht und Bereitschaft

Doch es ist auch nicht unmöglich. Was zwingend erforderlich ist, sind Einsicht und Bewusstsein. Und zwar – und das kann ich nicht dick genug unterstreichen – auf beiden Seiten! Nur zwei Partner, die beide bereit sind, ihre Scham zuerst sich selbst und dann dem Partner gegenüber zu offenbaren, haben eine Chance, ihre Beziehung vom Gift der Scham zu befreien.

Dies ist auch der Grund, warum es aus meiner Sicht meist ratsam ist, einen Narzissten zu verlassen. Narzissten sind undurchdringlich in ihrer Leugnung (= Schamabwehr). Kooperation ist hier nicht zu erwarten.

Ich habe selbst mehrere Fälle erlebt, in denen der narzisstische Partner so feindselig und angeblich fehlerfrei war, dass jeder Versuch, durch Gespräche Annäherung zu erreichen, zum Scheitern verurteilt war. Solche Menschen kann man – zumindest bis sie den Mut haben, ihre Leugnung zu durchbrechen – getrost als hoffnungslose Fälle bezeichnen.

Such dir Hilfe

Wenn du selbst feststellst, dass du dich in einer schambelasteten Beziehung befindest, warte nicht. Such dir Hilfe. Die Dinge werden nicht von selbst verschwinden. Im Gegenteil. Meiner Erfahrung nach verschlimmern sie sich. Die Ausbrüche nehmen zu. Die Heftigkeit der Attacken steigt. Die Trigger häufen sich. Die Wunden werden immer tiefer. Und die Gräben immer unüberwindlicher.

Um Scham in einer fortlaufenden Partnerschaft zu lösen, bedarf es einer soliden Basis. Und der beidseitigen Bereitschaft, es zu tun. Einseitig ist niemand in der Lage, eine solche Dynamik zu beenden (es sei denn durch Trennung).

Oder sagen wir eher: ein Einzelner kann damit beginnen, die Verantwortung zu übernehmen und Schamstrukturen aufzudecken. Er kann sich darum bemühen, die eigene Schamabwehr zu durchschauen und schrittweise durch konstruktiveres Verhalten zu ersetzen. Doch er kann nicht davon ausgehen, dass der Partner es ihm automatisch gleichtut. Meiner Erfahrung nach kann nur ein Mensch, der sein eigenes Schamverhalten erkannt und akzeptiert hat, beginnen, es zu ändern.

Authentische Grenzen

Dazu gehört auch, die eigenen authentischen Grenzen zu finden. Das kann für die Umwelt ganz schön unbequem werden.

Natürlich gehören zu einer schambelasteten Partnerschaft immer zwei. Der eine Partner mag stärker belastet sein als der andere, aber um in den gemeinsamen „Tanz“ überhaupt einzusteigen, müssen beide eine Schamdisposition mitbringen.

Fängt nun einer der Partner an, sich abzugrenzen und anders zu verhalten als gewohnt, kann das zu Unmut und Irritationen, ja sogar zu offener Feindseligkeit führen. Alte, vielleicht stillschweigende Abkommen oder Grenzen werden in Frage gestellt. Neue Verhaltensweisen und Bedürfnisse werden artikuliert. Das kann Wut auslösen.

Recht auf Grenzen

Bevor dies möglich ist, muss man sich aber erst einmal (wieder) das Recht zugestehen, respektvoll und freundlich behandelt zu werden. Vor allem uns Frauen fällt das traditionell oft schwer. Hat der eigene Selbstwert unter jahrelangen Attacken gelitten, ist es nochmal schwieriger.

Erst wenn wir spüren, dass wir nicht länger gedemütigt und gekränkt werden wollen, haben wir die Kraft, um uns dagegen zu verwehren. Erst wenn wir Nein sagen und Nein meinen, beginnt die Veränderung.

Beide leiden

Was ich nicht entstehen lassen möchte, ist das Bild eines Täters und eines Opfers, obwohl es sich für mich oft so angefühlt hat. Vielmehr werden beide Partner Opfer der Schamspirale. Sie leiden beide. Wenn auch anders.

Aus dieser Erkenntnis kann entstehen, was ich Verbundenheit nenne. Wenn beide erkennen, dass sie gemeinsam ein destruktives Spiel spielen, kann Heilung und Veränderung beginnen. Während der eine lernen muss, vom bisherigen Terrain etwas abzutreten, muss der andere lernen, dieses Terrain für sich einzufordern. Und dort, wo der eine aufhören muss, sich zu erheben, muss der andere aufhören, sich klein zu machen.

Kleine Wunder

Bewusstsein ist eine wunderbare Sache, wenn auch nicht immer leicht zu erreichen. Wenn beide Partner erkennen, dass sie an ihrer Scham scheitern, und wenn beide zugeben können, dass sie verletzlich sind und beisammen sein möchten, können kleine Wunder geschehen.

Je länger die schambelastete Dynamik sich einschleifen konnte, desto länger wird es dauern, ihre Struktur zu verändern. Aber wenn beide es wirklich wollen und bereit sind, in den Spiegel zu sehen, gibt es einen Weg aus der Sackgasse.