Dass Scham oft durch die Bewertung anderer ausgelöst wird, habe ich in mehreren Beiträgen beschrieben. Heute möchte ich auf einen anderen Auslöser von Scham eingehen: unerfüllte Bedürfnisse.

Wie bereits erwähnt, wirkt Scham als Kontaktgefühl zu unserer Umwelt. Sie wacht als Torwächter darüber, ob wir uns öffnen und gefahrlos mit der Umwelt austauschen bzw. verbinden können oder ob wir uns besser „geschlossen“ halten. Befinden wir uns in einem „unfreundlichen“ Umfeld, so warnt uns unsere Scham, unsere inneren Tore besser nicht zu öffnen und die Befriedigung unserer Bedürfnisse besser an anderer Stelle zu versuchen.

Unfreundliches Umfeld

Schwierig ist es, wenn wir über lange Zeit an ein „unfreundliches“ Umfeld gebunden sind, wie es in der Kindheit oftmals der Fall ist. Auch ein uns auslaugender Job, auf den wir finanziell aber angewiesen sind, kann ein solch „unfreundliches“ Umfeld darstellen. Schwierig ist eine solche Situation deshalb, weil wir zwar die Warnsignale unseres Körpers empfangen, dass wir besser andernorten unsere Bedürfnisse anbringen sollten. Finden wir jedoch keine adäquate Situation, wo wir dies tun können, bleiben unsere Bedürfnisse dauerhaft unerfüllt, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als sie tief in uns selbst zu vergraben. Dies kann so weit gehen, dass wir uns im ersten Schritt dafür schämen, überhaupt Bedürfnisse zu haben („bedürftig“ zu sein) und am Ende sogar leugnen, dass wir überhaupt Bedürfnisse besitzen.

Kernwunde

Mir ist im Laufe der Zeit klar geworden, dass meine persönliche Kernwunde aus zwei Elementen besteht: Zum einen reagiere ich völlig allergisch auf jede Form von Urteil und Bewertung. Zum anderen habe ich mich oft sprachlos gefühlt angesichts der Artikulierung meiner Bedürfnisse. Ich hatte das Gefühl, Chinesisch zu sprechen. Paradoxerweise hat dies dazu geführt, dass ich eine sehr differenzierte – und wie man mir sagte, eloquente – Sprache entwickelt habe. Doch trotz dieser Perfektionierung gelang es mir wieder und wieder nicht, mich mitzuteilen bzw. eine angemessene Antwort von meiner Umwelt zu erhalten.

Diese Wunde sitzt tief. So tief, dass es mir sogar schwer fiel und bis heute fällt, professionelle Unterstützung zu finden. Und eigentlich sollte man meinen, dass die Profis es doch wissen müssten …

Den eigenen Bedürfnissen auf der Spur

Diese vergebliche Suche hat im Übrigen dazu geführt, dass ich mich selbst auf die Suche nach Antworten machte. Analog zu dem Spruch „Schreibe selbst das Buch, das du gerne lesen würdest“ habe ich irgendwann beschlossen, die Therapeutin zu werden, die ich selbst dringend gebraucht hätte. Denn leider war die nirgends zu finden – jedenfalls ab einem gewissen Punkt meines Bewusstseins. Irgendwann hatte ich den Eindruck, der normalen Wald- und Wiesentherapie entwachsen zu sein. Ich wollte weitere, tiefere Antworten. Stattdessen erntete ich meist ratlose Gesichter.

Eine Reihe von Therapeuten, die ich im Laufe der Zeit kontaktierte, machte sich gar nicht erst die Mühe zu antworten. (Inneres Gefühl: Bin ich etwa unsichtbar? Oder bin ich es nicht einmal wert, zumindest eine kurze Nachricht à la „Ich habe leider aktuell keine Plätze frei“ zu verdienen?)

Eine weitere Therapeutin brachte mich innerhalb von zwei Stunden vollkommen zum Verstummen. (Und ich kann versichern, dass das nicht so schnell passiert). Ich hatte am Ende nur noch dieses ohnmächtige und vertraute Gefühl, egal, was ich sage – sie begreift gar nicht, worum es mir geht. Tat sie irgendetwas, das mir geholfen hätte? Nein, sie verstärkte eher noch meine Erfahrung, mit meinen Bedürfnissen, Fragen und Wünschen ins Leere zu laufen.

Und sogar renommierte Therapeuten und Buchautoren wie der Gestalttherapeut Victor Chu berichten, dass sie bereits viele Jahre therapeutisch tätig waren, bevor sie die Bedeutung von Scham wirklich begriffen. In der Ausbildung suchte ich dieses Thema ebenfalls vergeblich. Aus meiner Sicht ist das eine echte Unterlassung.

Familie und Freunde

Auch Familie und Freunde geraten rasch an den Rand ihrer Möglichkeiten, wenn sie mit den Auswirkungen von Scham konfrontiert werden. Zum einen reißt sich niemand um dieses schwere Thema (und von daher rechne ich es den Freunden, die es nicht über die Jahre in die Flucht geschlagen hat, hoch an!) Und zum anderen haben die Wenigsten den theoretischen Hintergrund, den ich mir über Jahre mühsam zusammengeklaubt habe. Doch wenn man erst einmal von Scham überflutet wird, ist man in der Regel nicht mehr in der Lage, dem Gegenüber noch eine theoretische Gebrauchsanweisung zu verpassen – selbst wenn man selbst begreift, was gerade in einem vorgeht.

Schamheilung scheint wie ein verstreutes Puzzlespiel zu sein. Die Teile liegen nicht säuberlich alle in einer Schachtel. Nein, vielmehr scheint jemand sämtliche Teile in alle Himmelsrichtungen verstreut zu haben. Finde die mal wieder! Und versuch dem Ganzen mal einen Sinn zu geben!

Abgrundtiefe Einsamkeit

Scham erzeugt abgrundtiefe Einsamkeit. Umso mehr, als man selten in den Genuss eines Leidensgenossens gerät, der einem die Hand auf die Schulter legt und sagt: „Mir geht es genauso. Es ist verdammt schwer, und ich weiß, wie es dir geht. Du leistest echte Knochenarbeit.“

Ich fühle mich an der Speerspitze einer Entwicklung. Ich bin nicht die Erste, die das Thema Scham erforscht und durchdringt. Gott sei Dank. Aber in Massen gibt es uns auch nicht gerade. Es ist ein wichtiger, aber ein einsamer Job. In Momenten wie diesen frage ich mich sogar, wofür ich ihn überhaupt mache. Warum ich meine Wunden nicht einfach wieder sorgfältig zuspachtle. Doch dann meldet sich diese kleine Stimme in mir, die sagt: „Du weißt genau, wofür du es tust.“

Schattenarbeit

Therapeuten oder Pioniere sind nicht immer strahlende Helden. Wir leisten wichtige Arbeit, verdammt wichtige Arbeit. Schattenarbeit. Aber Anerkennung erhalten wir dafür nicht unbedingt.

Warum ich diesen Artikel schreibe? Vielleicht, um die Maske der Unfehlbarkeit – oder Unverletzbarkeit – einmal fallen zu lassen und zu sagen: Sie sind von Scham befallen? Umringt? Eingekesselt? Ich weiß verdammt nochmal, wie sich das anfühlt! Ich kenne jede Nuance dieses Gefühls. Denn ich habe es bewusst erlebt. Sie sind nicht allein!

Jemand sagte mal so schön, ein Schmerz geistere so lange durch eine Familie, bis sich jemand finde, der bereit sei, ihn zu spüren. Aus irgendeinem mir unerfindlichen Grund scheine ich dieser Jemand zu sein.

Ich fühle mich fast wie ein Kristallisationspunkt. Ich nehme meinen Schmerz wahr. Diesen überbordenden, oftmals wortwörtlich unerträglichen Schmerz. Und ich versuche, ihn zu halten und da sein zu lassen. Aber auch ich bin nicht Superwoman. Ich brauche Anerkennung, Unterstützung, Verständnis und eine stützende Hand, wenn ich unter dem Gewicht des Themas mal wieder zu kollabieren scheine, wie alle anderen auch. Scham heilt nur in Verbundenheit. Niemals allein.

Lernende

Viele Heiler verkaufen sich eher als Lehrer. Ich bin kein Lehrer. Ich bin Lernende. Das ist einer der Gründe, warum ich meine Prozesse beschreibe und transparent mache. Doch das führt zu der merkwürdigen Erfahrung, das ich oft Ratschläge erhalte. (Was ebenfalls beschämend ist). Als sei es nicht aushaltbar, dass der Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Es müssen doch Lösungen her! Und Antworten! Eindeutigkeit!

Ja und Nein. Natürlich warte ich auf den Moment, wo bei mir endlich der sprichwörtliche letzte Groschen fällt. Michael Ende konnte seinen Klassiker Momo für sechs Jahre nicht beenden, weil ihm eine einzige, entscheidende Einsicht fehlte. Erst als ihm die geistesblitzartig zuteil wurde, konnte er das Ende des Buches schreiben. Denn sie saß im Herzen seiner Geschichte.

Genauso fühle ich mich oft. Mein inneres Bild ist schon recht vollständig, und es fehlen nicht mehr viele Puzzlestücke zum Ganzen. Doch die, die noch fehlen, sind entscheidend. Sie erst geben dem Ganzen seinen endgültigen Sinn. Das Herzstück ist noch nicht gefunden. Oder vielleicht schmerzt es noch zu sehr, um sich endgültig zu offenbaren.