Schamgefühle hängen stark davon ab, wie unsere Umwelt auf uns reagiert. Betrachtet oder beurteilt uns jemand positiv, verspüren wir Stolz und Anerkennung. Werden wir kritisiert, entwickeln wir Scham. 

Teil unserer Schamkultur besteht – leider! – in einer tiefsitzenden Kultur der Kritik. Ich kann mich noch erinnern, wie stolz (!) ich darauf war, in der Schule „kritisches Denken“ gelernt zu haben. Und so sehr diese Kritik als Reaktion auf unsere Geschichte erforderlich war, so sehr ist sie aus meiner Sicht ins Extrem gewandert. Wir haben unsere Kritikfähigkeit auf die Spitze getrieben. Wir sind zu einseitig in unserer Beurteilung.

Polaritäten ausbalancieren

Alles im Leben besteht aus Polaritäten. Kalt und heiß. Tag und Nacht. Liebe und Hass. Da bildet auch das Thema Scham keine Ausnahme. Der Gegenspieler von Scham ist gesunder Stolz und Selbstwert. Damit einher gehen weitere Empfindungen wie Lust, Tatkraft usw.

Heute las ich nun einen wunderbaren Bericht einer befreundeten Therapeutin, die einen Anruf von einer Klientin erhielt. Ihre erste, altbekannte Reaktion war Angst. Habe ich etwas falsch gemacht? Gefällt es ihr nicht? Will sie sich bei mir beschweren? Für einen Moment lang drohte sie in Panik zu verfallen. Eine Energie, die uns lähmt und weitgehend handlungsunfähig macht.

Ihr gelang es jedoch, sich zu entspannen und dem Anliegen der Frau ruhig und gelassen zu begegnen. Und war völlig überwältigt von dem, was dann geschah.

Angenehme Überraschung

Die Frau hatte extra angerufen, um der Therapeutin ihre Dankbarkeit auszudrücken. Wie viel sie aus ihrer Betreuung ziehe und wie gut sie sich aufgehoben fühle.

Die Therapeutin beschrieb den Moment der Veränderung in sich, als sie begriff, dass sie mit Kritik gerechnet (und sich fast schon dagegen gewappnet) hatte und stattdessen große Anerkennung erhielt.

Für mich ist diese Anekdote exemplarisch. Vielen von uns geht es genau so. Vielleicht sogar den allermeisten. Wir haben gelernt, mit dem Schlimmsten zu rechnen. Immer. Wir haben gelernt, kritisiert statt ermutigt zu werden. Das ist normal. Wir kennen es gar nicht anders. Schule ist nicht die einzige Quelle dieser Sorte Scham. Aber eine entscheidende. Lernen wir doch dort, (keine!) Fehler zu machen.

Blicke auf das Positive

Ich hatte vor einiger Zeit einmal gepostet, man solle den Menschen das Positive sagen, was man in ihnen sehe. Und ich bekam damals das Feedback (die Kritik?!), das sei aber unausgewogen. Man müsse immer beide Seiten der Medaille beleuchten.

Finden Sie den Denkfehler? Genau dazu hatte ich aufgefordert. Die maßlos unterrepräsentierte Seite auszubauen. Die Seite, die so unsichtbar für uns ist, so ungewohnt, dass wir nicht einmal merken, dass wir sie übersehen. Meine Anregung war, unsere Überlast an Scham mit Verbindlichkeit, Anerkennung und Blick auf die Ressourcen auszubalancieren.

Natürlich gibt es immer auch Grund zur Kritik. Oder zur Verbesserung. Niemand ist fehlerlos. Doch eine schamlastige Kultur, wie wir sie erleben, erzeugt massive Angst. Siehe Therapeutin. Für einen Moment (und Gottseidank nur für einen Moment) stellte sie all ihr Können, ihre Arbeit, ihr Herzblut und ihren Wert in Frage. Weil das Telefon klingelte.

Wie heilsam, dass es anders kam.

So geht Schamheilung

Genauso geht Schamheilung. Genau so. Je mehr unsere negativen Erfahrungen durch positive ausbalanciert werden, je mehr ermächtigende, ermutigende, unterstützende Erfahrungen wir machen, desto höher können wir fliegen. Und desto besser lernen wir – ganz von alleine! –, auch unsere schwächeren Seiten zu sehen.

Denn wir werden schon merken, wenn wir mal eine Bauchlandung machen. Dafür brauchen wir keine guten Ratschläge. Und Kritik schon gar nicht. „Haben wir es dir nicht gleich gesagt?“

Daher wiederhole ich noch einmal mit Nachdruck, was ich schon damals zu sagen versuchte: wenn Sie etwas Positives über einen Menschen denken oder fühlen, sagen Sie es ihm. Drücken Sie es aus. Und beobachten Sie sich einmal – ganz „kritisch“: wie oft äußern Sie eine Kritik, und wie oft drücken Sie Anerkennung aus?

Die meisten von Ihnen werden mir zustimmen, dass wir mächtig Schlagseite haben. Auf einem Schiff würde man beginnen, die Fracht gleichmäßiger zu verteilen. Nichts anderes schlage ich vor zu tun.

Denn sonst könnte es passieren, dass bei noch weiterer negativer Rückmeldung das eine oder andere Schiff so viel Schlagseite bekommt, dass es untergeht.

Anerkennung statt Lob

Eine Anmerkung sei hier noch erlaubt. Ich meine nicht, dass Sie Menschen loben sollten. Lob impliziert, dass der Lobende sich höher stellt – in der Hierarchie, dem Wissen, der Kompetenz – als der Gelobte. Wie die Oma, die dem Kleinkind mit zuckersüßer Stimme erklärt: „Das hast du aber fein gemacht.“ Auf Beziehungsebene enthält ein Lob nämlich eine sehr problematische Botschaft. Eine Bewertung. Genauer gesagt, eine Abwertung. Und die lautet: ich bin besser als du, und das zeige ich dir jetzt auch. Dass der Erwachsene mehr kann und Erfahrung hat, ist natürlich einerseits richtig. Aber die Schlussfolgerung, dass er deswegen besser wäre, ist nicht zulässig.

Beschämung entsteht, wenn Unterschiede erzeugt werden, die vorher nicht vorhanden waren. Z.B. wenn wir bewusst ein Machtgefälle erzeugen.

Anerkennung auf Augenhöhe drücken wir aus, wenn wir ehrlich von uns selbst sprechen. „Mir hat gefallen, was du getan hast.“ Oder: „Das hat mir gut getan.“ Oder auch: „Ich traue dir das wirklich zu.“ Damit leugnen wir nicht die real existierenden Unterschiede zum anderen. Wir können de facto immer noch erfahrener, größer oder stärker sein. Die Frage ist, ob wir unsere Fähigkeiten benutzen, um den anderen klein zu machen. Das erzeugt nämlich die Beschämung.

Authentische Ich-Botschaften haben einen völlig anderen Charakter als Lob. Lob – so paradox das auch klingen mag – beschämt ebenfalls. Denn es betont ein Gefälle und eine Ungleichheit. Wer lobt, erhebt sich über den anderen.

Ich habe lange gebraucht zu verstehen, warum mir manche scheinbar positive Rückmeldungen dennoch so unangenehm war. Es war Lob. Das weiß ich heute.

Nicht umsonst lernt man beim Feedback geben, in Ich-Botschaften zu sprechen. Anerkennung passiert von Mensch zu Mensch. Und das gilt nicht nur zwischen Erwachsenen.