Niemand hat die verborgene Schamwunde der Deutschen so klar gesehen und beschrieben wie Stephan Marks. Seine beiden Bücher Scham, die tabuisierte Emotion und Warum folgten sie Hitler? haben mir unumkehrbar die Augen geöffnet.
Noch immer tue ich mich schwer damit, das Thema Scham in eine handliche, verdauliche Form zu packen. Denn schwer verdaulich ist es. Das hat etwas mit Angst vor Überflutung zu tun. Also wende ich mich einem Thema zu, das mir gerade täglich im Alltag begegnet.
Die Scham für das, was gerade in Deutschland passiert. Die Scham für das, was im Rahmen unserer Demokratie wieder passiert, was viele von uns für nicht wiederholbar und schlicht undenkbar hielten.
Doch Lektionen kehren wieder, bis wir sie begriffen und gemeistert haben. Und das scheint individuell wie kollektiv zu gelten. Diese haben wir bisher nicht gemeistert. Ja, mehr noch. Vielleicht müssen wir erst einmal begreifen, worin die Lektion überhaupt besteht?
Scham und Werte
Um es so kurz wie möglich zu umreißen: Scham ist ein notwendiges, hilfreiches und soziales Kontaktgefühl. Sie entsteht u.a. durch negative Bewertung, und diese Bewertung hängt maßgeblich mit herrschenden Werten zusammen.
Scham entsteht also im sozialen Kontext, und Gruppenerwartungen und Gruppendruck spielen eine entscheidende Rolle.
Werte wiederum können von innen und von außen wirken. Wir haben eigene Vorstellungen und Überzeugungen, und dann gibt es Werte, die von außen an uns herangetragen werden. Je größer die äußere Macht ist, die auf uns einwirkt, desto stärker der Druck, diese Werte zu adaptieren. Tun wir dies nicht, droht sozialer Ausschluss – was evolutionär mit Tod gleichzusetzen war.
Das, was wir momentan beobachten, ist der Versuch einer (erschreckend wachsenden) Minderheit, Druck auf andere auszuüben. Sie wollen andere, ihre Werte etablieren. Zur Not auch mit Gewalt. Und um diese Ziele zu erreichen, bedienen sie sich der Angst.
Erfolgsfaktor Angst
Angst ist einer der zentralen Gründe, warum das Dritte Reich so erfolgreich werden konnte. Und Angst ist auch ein Grund, warum Tyrannen (aus ihrer eigenen Logik heraus) nahezu „gezwungen“ sind, in ihren Drohungen irgendwann zum Äußersten zu gehen. Nur dann können sie sicher sein, dass ihr Gegenüber auch wirklich gebrochen (d.h. unterworfen) wird. Andernfalls platzt ihre Machtblase.
Was hat das mit Scham zu tun? Scham ist ein Kontaktgefühl. Sie wacht über unsere Grenzen, unsere Integrität. Und Gewalt verletzt immer unsere natürliche Scham. Das gilt nicht nur für randalierende und marodierende Minderheiten, sondern auch für staatliche Gewalt. Und wir müssen nicht einmal die Opfer sein. Scham erfasst uns bereits, wenn wir Gewalt bezeugen.
Wenn das Dritte Reich durch eins gekennzeichnet war, so war es Gewalt. Und die Spitze der Gewalt ist Vernichtung.
Von dieser Gewalt ist niemand, der ihr beigewohnt hat, verschont geblieben. Sie hat uns als Kollektiv nachhaltig geschädigt. Forschungen im Tierreich weisen darauf hin, dass traumatische Erfahrungen (und nichts anderes sind Gewalterfahrungen) bis in die 14. Generation genetisch weitergegeben werden.
Mit anderen Worten: die Ereignisse der Vergangenheit haben traumatische Spuren in uns hinterlassen. Und darauf reagieren wir kollektiv mit Scham.
Kollektive Scham
Wir können uns dafür schämen, was wir getan oder was wir nicht getan haben. Oder was unsere Vorfahren getan oder eben nicht getan haben. Genauer gesagt, schämen wir uns sogar für das, was wir sind. Tun ist eigentlich eher eine Frage von Schuld. Doch Scham bezieht sich auf unser Sein.
Wir erleben individuelle, vor allem aber auch kollektive Scham. Wir identifizieren uns mit den Gruppen, in denen wir leben. Ohne Gruppe sind wir nicht überlebensfähig. Also passen wir uns an. Manchmal, in besonders drastischen Zeiten, tun wir dies bis zum totalen Selbstverrat.
Wir geben unsere eigenen Werte, unsere innere Integrität vollständig auf, wenn nur der Druck von außen groß genug geworden ist. Unser Gefühl mag sein, dass wir keine Wahl hatten – und möglicherweise trifft dies sogar zu. Doch solange wir noch einen Funken Menschlichkeit in uns haben, wird uns unser Gewissen plagen. Wir haben gegen unser eigenes Selbstverständnis verstoßen. Wir sind nicht, wer wir glaubten zu sein.
Wie fühlt es sich an, diese Widerkehr des Hasses zu beobachten? Zu beobachten, wie Menschen reihenweise ins rechte Lager zurückströmen? Zuallererst macht es mich fassungslos. Und ohnmächtig. Doch Ohnmacht wiederum hat extrem viel mit Trauma und Scham zu tun. Wir schämen uns unserer Ohnmacht. Wir schämen uns, dazuzugehören. Vielleicht schämen wir uns sogar, Mensch zu sein. Doch am Anfang stand unsere tatsächliche Erfahrung der Ohnmacht.
Gegenmittel gegen Scham
Es gibt jedoch ein Gegenmittel gegen Scham. Und das heißt Stolz. Wenn wir schamgebeutelt sind – vielleicht auch, weil wir anderen sozialen Ansprüchen nicht genügen, wir arbeitslos, krank, alt oder einfach anders sind – dann greifen wir nach jedem Strohhalm, der uns Stolz verspricht. Und genau dort haken die rechten Rädelsführer ein. Sie wissen, dass ihre Klientel hungert nach Anerkennung (und das ist verständlich, denn es ist ein menschliches Grundbedürfnis).
Und sie wissen, wie sie dieser Klientel sehr einfach geben können, wonach diese sich verzehren. Gib ihnen einen Schuldigen. Ein Opferlamm, auf das sie all ihre eigenen Gefühle der Unzulänglichkeit projizieren können. Ein Opferlamm, das nun endlich am Ende der Kette steht. Nicht mehr sie selbst.
Das Fatale an Scham ist, das wir sie in der Regel nicht bemerken (wollen). Wir wollen sie einfach nur so schnell wie möglich los werden. Mit welchen Mitteln, ist egal. Beschämung anderer, Demütigungen, Aggression, Größenwahn … all dies sind typische Merkmale der Schamabwehr. Das, was wir selbst nicht spüren wollen, tun wir einfach einem anderen an.
Innere Abgrenzung
Und in all dem, was ich schreibe, bemerke ich meine eigene Aversion, meine eigene innere Abgrenzung. Auch ich bin nicht frei von dieser Schamabwehr. Da sind „die“ und da bin ich. Das ist einfach, und – ganz ehrlich – es bringt enorme Entlastung. Und doch stimmt es nicht.
Die Wahrheit ist vielmehr, dass ich mich mit genug Ehrlichkeit immer im anderen wiederfinden kann. Ich kenne Wut, ich kenne Hilflosigkeit, ich kenne Enttäuschung, ich kenne Ohnmacht. Ja, ich kenne sogar Rachegelüste und Mordswut.
„Nichts Menschliches ist mir fremd.“
Warum sind wir noch immer so anfällig für billige Heilversprechungen? Warum greifen wir lieber zum Opferlamm, anstatt unserer eigenen Scham, unserem enormen Schmerz ins Gesicht zu blicken? Weil es so verdammt und unerträglich schmerzhaft ist! (Und das ist keine Entschuldigung, sondern eine simple Feststellung. Ich spreche aus verdammter Erfahrung!)
Und je verstrickter wir – oder unsere Vorfahren – in die Gräueltaten der NS-Zeit waren, desto unerträglicher ist unser Erbe.
Da ist es einfacher, die alten Lieder und Parolen wieder hervorzukramen, sich mit den Tätern zu identifizieren, die Abscheulichkeiten zu glorifizieren, die Leiden zu verhöhnen und die Opfer als schwach und wertlos darzustellen. (Achtung, Wertung! Da haben wir die Scham.) Während in Wirklichkeit wir selbst es oft sind, die wir uns schwach und wertlos fühlen. Aber können wir das zugeben?
Wir können diese Geschichte sich wiederholen lassen und die alten Dynamiken sich erneut austragen lassen. Oder wir halten inne und fragen: was ist damals wirklich passiert? Und was können wir tun, um neuerliche Gräuel zu verhindern? Was können wir tun, um in solch einem Erbe unsere Menschlichkeit wiederzufinden?
Trauer und Ermächtigung
Die Antwort ist: die einzige Chance ist Trauer. Verletzlichkeit. Uns unseren eigenen Schatten zu stellen. Und unsere Versäumnisse und Verfehlungen auszubalancieren mit der Frage: wo sind wir würdig? Was können wir gut, ohne dass wir andere klein machen müssen? (Denn dies kann uns in einem positiven Sinn wieder ermächtigen). Wie können wir alle bekommen, was wir brauchen, ohne die unbeantworteten Probleme einfach an den Nächstschwächeren weiterzugeben?
Toxische Scham entsteht, wenn wir kollektiv und individuell Grauen erfahren haben. Wenn unsere Grenzen bis zur Unkenntlichkeit überrannt wurden. Weder Opfer noch Täter sind unbeschadet daraus hervorgegangen.
Ja, es geht auch um die Wiedereinsetzung von Grenzen. Gesunden Grenzen. Nicht reiner Abschottung. Diese ist ein Merkmal der Scham. Wie diese Grenzen aussehen könnten oder müssten, kann ich hier nicht in zwei Zeilen umreißen. Das erfordert eine viel umfangreichere Diskussion.
Doch an Grenzen entsteht Kontakt. Unterscheidung. Wertfreie. Und Verbundenheit. Und die brauchen wir vielleicht am dringendsten, um diese kollektive Altlast zu begreifen und hoffentlich irgendwann gemeinsam zu überwinden.