In meinem persönlichen Umfeld bin ich in den letzten Monaten mit zwei herausragenden Themen konfrontiert worden: Transidentität und Autismus. Und beide haben existenziell mit Scham zu tun. Warum?

Sowohl Transidentität als auch Autismus sind Eigenschaften, die ich aus heutiger Sicht als „unveränderlich“ bezeichnen würde. Sie verschwinden nicht durch Verhaltenstherapie, Anstrengung oder guten Willen. Sie sind fundamentale Merkmale eine Persönlichkeit. Damit drohen sie zu einer Quelle existenzieller Scham zu werden.

Für die Betroffenen werfen sie massive Schwierigkeiten auf. (Selbst-)Akzeptanz und allgemeine soziale Werte.

Obwohl wir uns in einer pluralistischen Gesellschaft befinden, haben wir es bis heute mit einem Narrativ zu tun, das gemeinhin als anerkannt gilt. Nennen wir es sozialen Konsens. Oder „die öffentliche Meinung“.

Sozialer Konsens

Doch wie valide ist dieser Konsens eigentlich noch? Gilt er nur deshalb noch, weil so viele Menschen viel zu lange stillgehalten haben? Ihre Einzigartigkeit verstecken mussten – häufig um den Preis von Suizid als einzigem Ausweg?

Ich finde es auffällig, wie viele Transgender-Personen und Autisten in letzter Zeit ans Tageslicht treten. Erst kürzlich noch hat sich Elon Musk als Autist geoutet.

Sie durchbrechen den allgemeinen Diskurs, und das kann uns durchaus verstören. Doch letztlich passiert damit ein essenzieller Umbruch. Die, die sich in die Unsichtbarkeit gedrängt fühlten, fordern ihr Recht. Fordern ihren Platz. Nur, weil wir etwas nicht sehen wollen, heißt es nicht, dass es nicht da wäre.

Stolz und Selbstermächtigung

Nicht umsonst hat sich die LGBTQIA+ Bewegung „Pride“ (Stolz) auf die Fahnen geschrieben. Es ist eine aktive, selbstbestimmte Umdeutung des alten Narrativs. Ein Reframing. Eine Neubeurteilung. Ein Sich-Zueigen-Machen.

Und noch etwas stelle ich fest: die Dinge beim Namen zu nennen scheint Erleichterung bei den Betroffenen auszulösen. Endlich ist die Katze aus dem Sack! Ich muss mich nicht mehr verstecken. Seht her, das bin ich wirklich!

Die Maske darf fallen. Das falsche Selbst. Das So-Tun-Als-Ob. Das Tabu bricht. Und das ist gut so.

Ich weiß selbst, wieviel vergeudete Energie ich jahrelang darauf verwendet habe, in Boxen zu passen, die mir nicht annähernd passen wollten. Wie es sich anfühlen muss, im falschen Körper geboren zu sein oder so empfindsam zu sein, dass sogar Berührung schmerzt, kann ich mir nicht annähernd vorstellen. Aber ich habe andere Referenzpunkte in meinem Erleben, wo ich sehr wohl andocken kann.

Referenzerlebnisse

Mich falsch zu fühlen. Beschämt zu werden. Verurteilt. Mich nicht sicher zu fühlen, mich unverstellt zu zeigen. Sprachlosigkeit zu empfinden angesichts des Unverständnisses.

Wie beschreibst du jemandem den Geschmack einer Zitrone, wenn er sie noch nie gekostet hat?

Alles, was ich tun kann, ist anderer Wahrnehmung zu vertrauen. Ich muss sie nicht teilen – ja, ich teile ja nicht mal die Wahrnehmung mit jemanden, den ich als mir ähnlich empfinde –, aber ich kann sie als gültig anerkennen.

Unser sozialer Konsens wird deshalb zerfallen, weil er auf Lügen, Vermeidungen bzw. Unvollständigkeiten basierte. Um ganz zu werden als Gesellschaft und als Einzelne, müssen wir auch die Schattenthemen würdigen.

Schattenarbeit

Aus der Therapie wissen wir, wie marodierend und destruktiv sich ungeliebte innere Anteile verhalten können. Wenden wir uns ihnen zu, wird ihre (Für-)Sorge, ihre Stimme, ihre Bedeutung und ihr Wert (!) für uns sichtbar.

Es ist eine Zeit, in der immer mehr Menschen ihre Masken fallen lassen. Manchmal werden sie ihnen auch gewaltsam abgerissen. Eine Chance liegt darin immer.

Es ist auch eine verstörende Zeit, ja. Das, was wir für gültig hielten, zeigt Risse. Es gab Zeiten, wo ich mich verraten gefühlt habe, als mir manche Dinge klar wurden. Scheinbare Gewissheiten in sich zusammenfielen.

Wieso hast du das nicht eher gesagt?

„Wieso hast du das nicht eher gesagt?“ waren Gedanken, die ich durchaus hatte. Aber ich kenne die Antwort. Fragen nach dem Warum führen uns selten weiter. Sie erzeugen nur Schuld und Scham.

Die Antwort ist: weil es nicht möglich war. Die Angst war zu groß, und die Leugnung. Oft genug auch vor sich selbst. Die Referenzpunkte haben gefehlt. Die Punkte, wo heilsame Verbindung möglich gewesen wäre.

Ich glaube, deshalb tappen viele von uns so lange im Dunkeln. Wir haben oft keine Ahnung, dass es noch mehr von uns gibt. Aber es ist die bewusste Gemeinschaft, die uns die Kraft gibt, wir selbst zu sein. Es ist das Erkennen im anderen („Du auch …?!“), das uns aus unseren zerbrechlichen Schneckenhäusern kommen lässt.

Ich kann mich nie vollständig in einer anderen Person wiederfinden. Aber immer in Teilen. Diese Teile sind es, die uns in unserer Menschlichkeit zusammenhalten.

Immer wieder kehre ich auch zu Rumpelstielzchen zurück. Wir müssen seinen Namen nennen, um den Fluch zu brechen.

Es fühlte sich an wie ein Fluch. Doch plötzlich wird es zu einer Chance.

Genau wie du?

Wir suchen Spiegelung, ja. Und Spiegelung zeigt Ähnlichkeit. Dennoch ist jeder von uns ein vollständiges Universum in sich. Absolut einmalig.

Anstatt Abwehr brauchen wir Neugier. Was geschieht hinter deiner und meiner Maske? Dort wartet die Chance auf wahre, tiefe und in seiner Intensität fast verstörenden Nähe.

Unser intimster Raum ist durch genau diese Angst versperrt. Was werden sie sagen, wenn sie mich wirklich sehen?

Was sage ich zu mir selbst?

Vor ein paar Tagen las ich noch diesen wunderbaren Satz auf Facebook:

„Möge deine innere Stimme das Freundlichste sein, was du kennst.“

Das ist das Geheimnis der Schamheilung. Sprich freundlich. Mit anderen. Aber vor allem mit dir selbst.

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Nachtrag: Haha, erst beim Suchen eines passendes Bildes ist mir die Ironie und Doppeldeutigkeit der Situation klargeworden.

Wofür brauchen wir unsere Masken?