Angst vor Fehlern ist eine typische und weit verbreitete Schamreaktion – wenn auch oft unbewusst. Die Ursache liegt in unserer kulturellen Leistungsorientierung. Damit verbunden ist nämlich eine regelrechte „Null-Fehler-Toleranz“. Fehlerfreiheit ist ein hoher Wert – vor allem in Deutschland. Das hat aber einen Schatten. Denn es bedeutet: Fehler dürfen nicht sein.
Doch sehen wir uns diese Überzeugung einmal näher an. Warum ist sie so schädlich, und warum hält sie uns von wichtigen Erfahrungen ab? Zu welchem Vermeidungsverhalten führt uns die Scham für Fehler, und was gewinnen wir, wenn wir uns Fehler wieder zugestehen?
Versagensangst
Versagensangst ist genau genommen nichts anderes als die Angst vor Fehlern. Können wir etwas nicht – und wagen wir das auch noch zuzugeben! – droht Beschämung. Wie viele von uns kennen die Angst, nicht zu „genügen“?
Es ist alles andere als ein Zufall, dass Genügen gleich doppelt in der deutschen Notengebung auftaucht. Die Note „Genügend“ enthält schon deutlich die tadelnd gerümpfte Nase. Aber „ungenügend“? Das war wohl für jeden Betroffenen ein emotionaler Totalausfall.
Ungenügend! Ungenügend?
Forschen wir noch ein bisschen weiter. Wem erschien unsere Leistung ungenügend? Erschien, wohlgemerkt.
Und wer hat anderen überhaupt das Recht zugestanden, über uns zu urteilen? Haben wir es nötig, uns aburteilen und bewerten zu lassen? Wessen Wertmaßstäbe werden da auf uns angewandt? Hat uns jemand gefragt, ob wir beurteilt werden möchten? Oder wie wir uns selbst beurteilen? In den meisten Fällen wissen wir selbst genau, wenn es zu verbessern gilt. Warum die Schelte?
Machtgefälle
Wir haben es hier mit nicht weniger als einem vorgefertigten Machtgefälle zu tun. Mit institutionalisierter Autorität – nicht persönlich erworbener. Autorität per Definition. Per Stellenausschreibung.
Genau genommen haben wir es sogar mit institutioneller Gewalt zu tun. Toxische Scham entsteht durch Gewalt. Denn Gewalt verletzt Grenzen. Gewalt beschädigt unsere Integrität.
Was, wenn Fehler unvermeidlich und gesund sind?
Wie lernen wir, bevor wir in die Schule kommen? Wir üben. Wir experimentieren.
Wir krabbeln, wir ziehen uns hoch, machen unsere ersten wackeligen Schritte. Und nach dem ersten, zweiten oder dritten Schritt landen wir auf unserem bewindelten Hinterteil. Die Erwachsenen sind ganz verrückt vor Entzücken. Stolz erfüllt sie. Ihr Nachwuchs lernt laufen. Und der merkt trotz dicker Windel sehr wohl, wenn er auf den Po gefallen ist. Aha!
So weit, so gut.
Wir lernen also durch Erfahrung. Und was heißt Erfahrung? Etwas zu probieren und das Ergebnis zu erleben. Waren wir erfolgreich, wiederholen wir unsere Strategie. Waren wir nicht erfolgreich, ändern wir unsere Strategie.
Fehler zeigen, was fehlt
Fehler sind also etwas prinzipiell Neutrales. Eine Erfahrung. Oder, wie der Trainer Christian Maier es so schön formulierte: Fehler zeigen lediglich, was fehlt.
Wie wir auf diesen Fehler reagieren, macht den Unterschied. Wie wir ihn beurteilen. Und unser Urteil entscheidet über die Erfahrung.
In der Schule lautete das Urteil: Durchgefallen. Ja, selbst ein Lob war zweischneidig – zeigte es doch nur den Unterschied zwischen „erwünscht“ und „unerwünscht“. Hier sitzt die Wurzel jeder Rivalität.
Dabei könnten wir stattdessen auch ermuntert – und ermutigt – werden, Fehler zu machen. Wer Fehler macht, lernt. Ist das nicht etwas Großartiges? (Achtung, Urteil!)
Eine wunderbare Geschichte illustriert, wie man stattdessen mit Fehlern umgehen kann. Edison, der Erfinder der Glühbirne, soll einmal gesagt haben: „Ich bin nicht gescheitert. Ich kenne jetzt 1000 Wege, wie man keine Glühbirne baut.“
Wenn wir auch Misslingen als Lernerfahrung werten, erhalten Fehler einen ganz neuen Stellenwert. Dann können wir stolz sein, etwas gelernt zu haben.
Und mal ehrlich: welche Lektionen sind Ihnen am lebhaftesten im Gedächtnis geblieben? Die, die völlig reibungslos verlaufen sind oder jene, an denen Sie sich die Zähne ausgebissen haben? Was ist wertvoller? Was ist nachhaltiger?
Wenn wir Fehler vermeiden
Haben wir jedoch gelernt, Fehler zu vermeiden, hören wir auf, neugierig Dinge zu erforschen. Wir schielen nur noch auf das mögliche Urteil und nicht mehr darauf, was eigentlich unsere Neugier beflügeln könnte. Und genau genommen vermeiden wir nicht einmal die Fehler selbst – wir vermeiden das potenziell vernichtende Urteil der anderen. Und je mehr uns etwas am Herzen liegt, desto weniger werden wir riskieren, dass andere unsere Herzensangelegenheit madig machen. Mit dem Effekt, dass wir unsere Träume zwar bewahren, aber nicht mehr verfolgen.
Und Fehlervermeidung hat noch einen anderen Effekt: wir haben Geheimnisse. Wenn wir nicht mehr gefahrlos von unseren Zweifeln, Sorgen, Ängsten oder Fehlbarkeiten sprechen können, fangen wir an, uns zu verstecken. Warum verwehren sich so viele Menschen der zunehmend geforderten „Transparenz“? Weil sie das Urteil fürchten.
Könnten wir zugeben, dass wir nicht allmächtig, allwissend und unfehlbar sind – wie viel einfacher wäre die Welt. Und wie viel einfacher ließen sich Lösungen finden, anstatt um den heißen Brei des Verbotenen herumzulavieren.
Abschied ist schmerzhaft
Ich weiß seit langem, was meine Stärken sind. Wer ich bin. Und trotzdem schrecke ich noch immer davor zurück, mich voll und ganz damit zu zeigen. Warum? Weil es mich angreifbar macht. Sichtbar. Wie unangenehm. Wie gefährlich.
Ich könnte auch sagen: manche Menschen entlassen mich nicht aus meiner Rolle. Aber das stimmt so natürlich nicht. Genauer müsste ich sagen: ich lasse mich selbst noch nicht völlig aus meiner alten Rolle. Ich identifiziere mich noch immer – zumindest teilweise – mit alten Beurteilungen. Das Alte ist noch immer in mir. Die Wunde ist noch nicht komplett geheilt.
Der Abschied von diesem alten, erlernten Selbstbild ist schmerzhaft – bedeutet es doch zu erkennen, dass wir nicht wirklich gesehen wurden für das, was wir sind. Dass wir Rollen und Erwartungen erfüllt haben, anstatt wir selbst sein zu dürfen. Doch was erwarten, was wollen wir von und für uns selbst?
Erwachsen werden
Schamheilung bedeutet auch, emotional erwachsen zu werden. Unabhängig. Selbstbestimmt. Sebstermächtigt. Es bedeutet, sich von Situationen, Menschen und Erwartungen zu verabschieden, die uns klein oder gefangen halten. Etablierte Machtgefälle zu verlassen. Ändern können wir die anderen nicht. Wir können lediglich unsere Reaktion auf sie verändern.
In unserem Blick liegt die Heilung. Wenn wir nicht liebevoll angesehen wurden, können wir uns dies nun selbst geben.
Wie sehen Sie sich selbst an? Wer blickt Ihnen morgens im Spiegel entgegen?
Lieben Sie, was Sie dort sehen?
Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass es so ist.
Wenn nicht – es lässt sich erlernen.
Stellen Sie sich darauf ein, dabei Fehler zu machen. ;-)